Grey


  „Grey“ bedeutet nicht grau, jene undurchsichtige Farbe, die den anstehenden Herbst als vergänglichste aller Jahreszeiten markiert, oder den Gemütszustand zwischen Depression und Resignation beschreibt. Bei Wolfgang Puschnig ist „Grey“ vielmehr ein Synonym für bunt, für Abwechslung, Gegensatz, Vielgesichtigkeit – eben wie das Bildnis des Dorian Gray, auch wenn ihm die korrekte Schreibweise der Oscar Wilde-Figur wie vielen anderen bei der Namensgebung abhanden ging. Aber dennoch ist es das mithin größte Ding, das der österreichische Jazzmusiker in kleiner Besetzung jemals gedreht hat. Ein keineswegs wahllos vermengtes, sondern clever austariertes Sammelsurium aus individuellen Nuancen und Geistesblitzen. „Grey“: das sind vier herausragende Musiker mit überdurchschnittlich ausgeprägter Offenheit, Neugierde und Experimentierlust. Zwei leidenschaftliche Melodieführer – Puschnig, der bekannteste österreichische Reedsbläser der Gegenwart, und Steve Swallow, die Instanz am E-Bass schlechthin – sowie zwei fulminante Timekeeper – der wirklich großartige Schlagzeuger Billy Hart und der wie ein rhythmischer Kreislauf funktionierende Perkussionist Don Alias. Zwei weiße und zwei schwarze Musiker. Ein Kaleidoskop aus Stilen und Spielarten, aus Kulturen und blindem Verständnis. „Flötenspuin hob I a amoi g’lernt.“ So kokettiert Wolfgang „Redneck“ Puschnig vor „Light Blue“ aus der Feder von Landsmann Harry Pepl mit seinem reichen Potenzial auf dem von der Konkurrenz verhassten Instrument. Mit feurigem Atem vulkanisiert er jedes Solo, reichert es mit heißeren Singtönen an, hechelt lustvolle Phrasen ins Mundstück und rankt sich wie Efeu um den Bass Swallows, der wie eine Raubkatze in Lauerstellung fette Grooves genau auf die richtige Nervenbahn tropfen lässt.

So funktioniert das Prinzip des ansteckend aufgedrehten Quartetts fast immer. Puschnig und Swallow besorgen die simpel-genialen Ohrwurmlinien, während sich Lewis und Alias um den Wippfuß des geneigten Hörers kümmern und dabei nicht selten wie eine Horde Tapdancer daher kommen, die sich mit ekstatischen Shaolinmönchen in eine rhythmische Zentrifuge hineintreiben lassen. Zwei Fraktionen, ein Ziel: den ganzen Reichtum des modernen Jazz darzustellen. Mit Puschnigs plauderndem, empfindsamem Altsaxofon („The Poetry of the Judge“), Swallow’s fast gitarrenartig gezupftem Bass („Homage“), Hart’s nur an den Rändern der Trommeln und Becken angestoßene Parforceritte und Alias’ galoppierenden, butterweichen Conga-Intermezzi. Jeder Titel ein Höhepunkt für sich und außerdem ein Blick in die Seele der populären Musik. Aber auch auf den unverblümten Narzissmus der sie vertonenden Menschen. Die jazzverliebten Brüder des Dorian Gr(e)ay. (Reinhard Köchl)


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